Am 21.04.2011 liegt ein etwa fünfjähriges Kind im Krankenhaus. Es ist schon den dritten Tag dort. Die Lage ist unverändert schlecht. Es wurde im Koma eingeliefert. Auf dem ganzen Körper sind Windpocken zu sehen. Das Kind hat steigendes Fieber. Es ist an einer Infusion angeschlossen. Auf dem Hocker neben dem Bett liegt der Urinbeutel. Ernährt wird es von den Eltern über eine Magensonde.
Man hört die Atmung des Kindes schon ohne Stethoskop, ein Infekt des gesamten Atemwegstraktes. Trotzdem gibt mir der Arzt das Stethoskop und fragt mich, wie die Atmung heute sei. Die Antibiotikatherapie hat bisher noch nicht angeschlagen. Die Mutter sitzt besorgt neben dem Bett und fächert mit einem Tuch die Fliegen weg. Sie sieht fertig aus. Sie kann nicht mehr essen vor Sorge. Sie wacht Tag und Nacht neben ihrem Kind. Ich lege meine Hand auf ihre Schulter, sie greift sofort danach. Ich nehme sie in den Arm, sie krallt sich an mir fest und weint. Die Frau riecht unangenehm. Der Mann sieht verschwitzt aus. Das Kind ist nur von alten Kleiderfetzen zugedeckt, die dringend gewaschen werden müssen. Am Kopfende liegen gebrauchte Servietten, mit der die Mutter den herauslaufenden Speichel abgewischt hat. Die Venenkanüle muss neu gelegt werden, da sie sich schon zu lange in der Vene befindet. Das Kind zuckt nicht einmal zusammen, als die Pfleger versuchen, die Kanüle zu legen. Leider scheitern alle Versuche. Die Kanüle verbleibt.
Der Familie wird empfohlen, nach Phnom Penh zu gehen. Sie haben kein Geld. Ich treffe die Mutter auf dem Flur am Boden zusammengesackt. Ich tröste sie. Dann kommt ihr Mann, erfrischt ihr Gesicht unsanft mit Wasser und verdeutlicht ihr, sie solle sich zusammenreißen. Sie werden Verwandte fragen, ob diese finanziell helfen können. Bevor ich in die Mittagspause ging, hieß es: “Sie fahren nach Phnom Penh”.
In meiner Mittagspause habe ich zusammen mit einigen anderen Freiwilligen das Waisenhausprojekt in Thalaborivat besucht. Dort wird für 18 Waisen ein Haus gebaut. Momentan steht das “Haus” auf Holzstelzen und ist von einem Wellblechdach bedeckt. Es ist zweigeteilt. Die eine Hälfte ist mit großen Blättern abgedeckt, die den Schlafbereich vor Wind und Regen schützen sollen. Die andere Hälfte ist zum Kochen, Essen und Ausruhen gedacht. Im Schlafbereich liegt ein 17-jähriger Junge mit Bauchschmerzen. Wir bringen ihn auf die andere Seite des Flusses in das Krankenhaus, in dem ich arbeite. Es wird ein entzündeter Wurmfortsatz (“Blinddarm”) diagnostiziert, der chirurgisch entfernt werden muß.
Bei der Ankunft im Krankenhaus sah ich auch, dass die Familie immer noch da war. Ich hatte sie längst auf den Weg nach Phnom Penh vermutet. Long Lypo war zufällig auch im Krankenhaus, weil eine Frau aus der Evergreen Community entbinden wollte. Es gab Komplikationen und das Baby konnte mit Kaiserschnitt geholt werden. Ich stellte ihm die Familie vor. Er erkundigte sich bei den Ärzten und Pflegern. Und stimmte mir zu, dass sie nach Phnom Penh müssten. Wir überlegten, ob es möglich wäre, sie mit dem normalen Minibus zu transportieren. Die Eltern meinten, dann würden sie lieber hier bleiben. Das Kind würde ohne medizinisches Personal auf dem Weg versterben. Es kam also nur die teure Ambulanz in Frage.
Es sind nur wenige Telefonate nötig, Childrenplanet übernimmt die Kosten und gibt der Familie noch das Geld für Verpflegung und Rückfahrt. Die Ambulanz wurde vorbereitet. Es wurde eine passende Sauerstoffflasche besorgt, notwendige medizinische Materialien zusammengesammelt, getankt. Es hat ungefähr noch eine Stunde gedauert, ehe die Familie einsteigen konnte. Dann ging die Fahrt los nach Phnom Penh. Sie sind morgens um drei Uhr angekommen. Einmal mussten sie das Kind absaugen(die Atemwege von Speichel befreien).
Nun liegt es in einem Kinderkrankenhaus in Phnom Penh, in dem die Versorgung dank eines Schweizers kostenlos ist. Dieses Krankenhaus erlaubt Ausländern keinen Zutritt. Wir dürfen drei Tage später trotzdem hinein und das Kind besuchen. Fotografieren ist untersagt. Eine Ärztin begleitet und hilft uns, das Kind zu finden. Wir werden auf der Station ITS 1 schließlich fündig. Alle drei sehen sehr viel besser aus. Das Kind hat eine Enzephalitis, die Windpocken scheinen weniger zu werden. Wir dürfen es nur ganz kurz sehen, dann müssen wir wieder gehen. Die Mutter sieht sehr erleichtert aus. Beide sind sehr dankbar.
Wir gehen mit einem guten Gefühl.
Pauline Schröder, dzt. Volontärin im Krankenhaus in Stung Treng